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Das Multitasking hat uns fest im Griff - was wir jetzt für geist und Gehirn tun können

Wir stehen ständig unter Strom, heißt es überall. Ist das so? Oder finden wir es hip, „im Stress“ zu sein und darüber zu reden?
Veröffentlicht am 08.06.2018

Wir stehen ständig unter Strom, heißt es überall. Ist das so? Oder finden wir es hip, „im Stress“ zu sein und darüber zu reden?

Beides stimmt. Wir wissen und reden viel darüber, also erkennen wir das Phänomen auch im Alltag besser. Das nennen wir Reiseführer-Effekt: Wer sich vor dem Besuch einer Stadt belesen hat, erkennt Bauwerke und Plätze vor Ort auch plötzlich. Richtig ist aber auch, dass die Welt, in der wir leben, immer lauter wird, sich immer schneller dreht und eine hohe Anspruchsleistung an uns stellt.

Haben unsere Eltern oder Großeltern etwas anders oder besser gemacht als wir heute?

Vermutlich hat sich der Mensch selbst gar nicht so sehr verändert. Aber die soziokulturellen Einflüsse unserer modernen Leistungsgesellschaft auf die Art, wie wir unser Leben gestalten, sind heute andere. Aktivität ist das Statussymbol unserer Zeit. Wer sich bewegt, viel macht, viel erlebt und viel kennt gilt heute als erfolgreich. Jeder hat heute unglaublich viel zu tun. Nicht immer ist hier die Arbeit schuld. Wir tragen selbst alle dazu bei. Wir sind Opfer, aber auch Verursacher.

Welche Folgen hat dieses ständige Multitasking, mit dem wir konfrontiert sind, für uns Menschen und unseren Arbeitsalltag?

Es sind unsere überlangen to-do-Listen, sei es am Schreibtisch oder vor dem heimischen Fernseher, die uns dazu verführen, überall gleichzeitig zu sein, aber nirgends mehr richtig. Wir glauben, Gleichzeitigkeit hilft uns Zeit zu sparen. Multitasking bedient unseren Wunsch nach Effizienz. In Wahrheit jedoch zeigt uns eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen, dass die geistige Arbeitstiefe bei dem Versuch einer gleichzeitigen Aufgabenbewältigung deutlich flacher ist. Das ständige Umschalten zwischen Aufgaben kostet uns letztlich mehr Zeit und eine höhere Fehlerrate. Ein durchschnittlicher Angestellter in Deutschland verliert hierdurch heute etwa eine Stunde pro Arbeitstag an Produktivität.

Lassen sich daraus auch gesundheitliche Folgen ableiten?

Multitasking, ständiger Aufmerksamkeitswechsel, Reizflut und hektisches Arbeiten steigern nachweislich den Stresslevel im Gehirn. Die Aktivierung verschiedener Alarmsysteme ist die Folge, was wir dann in Form von innerer Unruhe, Blutdruckerhöhung, muskulären Verspannungen oder Kopfschmerzen bemerken. Letztlich sinken irgendwann auch hochgeistige Leistungen, wie die Fähigkeit flexibel zu denken, uns in andere hineinzuversetzen oder die Kreativität. Alle Beschwerden zusammen senken unsere Motivation und können zu einem Gefühl von Erschöpfung und Kontrollverlust führen.

„Der Schlüssel zum Erfolg liegt im Kopf“, sagen Sie. Was genau meinen Sie damit?

Unser Gehirn hat im Laufe der Evolution die Stärke entwickelt, sich auf etwas zu fokussieren und ganz in einer Sache zu versinken, egal ob dies das Lesen eines spannenden Artikels, eine anregende Unterhaltung oder eine komplizierte Rechenoperation ist. Die Tiefe, die für das ungestörte Bewältigen einer Aufgabe nötig ist, führt nicht nur zu einem besseren „Durchdringen“, sondern ist auch eine gesunde Form der geistigen Anspannung, die Stress eher reduziert. Wer seine Arbeit also gut strukturiert und seine Aufgaben mit weniger Ablenkungen und Unterbrechungen nacheinander abarbeitet, erlebt nicht nur eine Verbesserung der allgemeinen Leistung, sondern gleichzeitig auch eine Steigerung der Arbeitszufriedenheit. Natürlich wird dies kaum jemand einen ganzen Arbeitstag durchhalten können, aber eine konzentrierte tiefe Stunde, wie ich es gerne nenne, sollte sich einrichten lassen. Etwas Selbstdisziplin gehört aber dazu.

Haben stressresistente Menschen eine Gemeinsamkeit?

Menschen, die resistenter gegenüber den Belastungen durch ihre Arbeit sind, zeichnen sich im Wesentlichen durch folgende drei Eigenschaften aus: Erstens durch ihre Fokussierungsfähigkeit, das heißt, sie wählen sorgfältig aus, was jetzt wichtig ist und schenken ihre ganze Aufmerksamkeit und Konzentration einer Sache. Zweitens durch ihre Außenreizresistenz, was bedeutet, dass sie Maßnahmen ergreifen, mit denen sie sich für bestimmte Phasen des Tages unerreichbar machen, um in Tiefe in einer wichtigen Sache zu versinken. Und drittens durch ihre Erholungskompetenz. Sie wissen, was ihnen guttut. Sie kennen Möglichkeiten der geistigen und körperlichen Entspannung und haben den Mut, sich regelmäßig Ruhephasen zu gönnen, trotz zahlreicher Aufgaben und Verpflichtungen.

Erkennen Sie Unterschiede im Gehirn von viel und wenig belasteten Menschen?

Die Forschung ist hier noch am Anfang. Um die langfristigen Auswirkungen von Arbeitsstilen oder Belastungen am Arbeitsplatz auf das Gehirn einer Person nachweisen zu können, müsste man größere Gruppen von Menschen über Jahre hinweg begleiten und in einem prospektiven Studiendesign zu verschiedenen Zeitpunkten untersuchen. Das gestaltet sich schwierig, entsprechend dürftig ist die Studienlage. Aber wir wissen aus den Neurowissenschaften, sowohl beim Tier als auch beim Menschen, dass die Art, wie wir leben, grundsätzlich Spuren im Gehirn hinterlässt: Bei extremen Stressereignissen konnte zum Beispiel bereits mehrfach nachgewiesen werden, dass es zu einem Untergang von Nervenzellen in bestimmten Bereichen des Gehirns kommen kann. Die Daten legen nahe, dass es sinnvoll sein kann, seine Lebensweise hin und wieder zu reflektieren und pfleglich mit sich und seinem Gehirn umzugehen.

Sie sind Uni-Dozent, viel gefragter Experte, Autor, Speaker und vieles mehr, also ein Multi-Tasker. Was tun Sie, wenn Sie sich reizüberflutet fühlen?

Ja, Sie haben recht. Auch ich habe viele Aufgaben zu bewältigen. Wichtig bleibt, immer wieder seinen Fokus zu finden: Was ist jetzt wichtig? Welcher Sache möchte ich jetzt meine ganze Aufmerksamkeit schenken? Und worauf kann ich jetzt dagegen verzichten? So kommt Struktur in den Kopf und damit Ordnung, die Stress reduzieren hilft. Außerdem baue ich immer wieder Ruheinseln ein, die ich fest einplane und diszipliniert einhalte. Bei mir persönlich heißen diese Inseln: Wald und Berge, körperliche Bewegung und das Versinken in anregender Literatur oder spannenden Kinofilmen. Auf diesen Inseln gibt es kein WLAN.

 

[HEIKE THISSEN]