You are here

Hochsensible Sind High Performer

Dr. Christina Sternbauer, Ärztin und Online-Unternehmerin, im Interview über Sensibilität und die Begabung dies für sich und die eigene Karriere zu nutzen.
Veröffentlicht am 15.10.2021
Dr. Christina Sternbauer ist Ärztin und Online-Unternehmerin. Sie verfügt selbst über eine hohe Neurosensitivität. Auf Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und ihrer Recherchen hat sie ein Programm erstellt, mit dem sie andere Hochsensible darin anleitet, ihre Begabung für sich und die eigene Karriere zu nutzen. | Bild: Sternbauer Live Design

Frau Sternbauer, was genau bedeutet es, wenn jemand hochsensibel ist?

Menschen mit Hochsensitivität oder – den Begriff finde ich treffender – hoher Neurosensitivität haben eine besonders gute Fähigkeit, Reize aus ihrer Umgebung zu registrieren und zu verarbeiten. Damit unterscheiden sie sich in der Sensitivität ihres zentralen Nervensystems von vielen anderen Menschen. Einige von uns nehmen sowohl innere als auch äußere Reize kaum wahr, andere nehmen sie in normalem Maß wahr und wieder andere nehmen sie sehr stark wahr.

Können Sie ein Beispiel nennen, wie sich hohe Neurosensitivität gut erklären lässt?

Hochsensible nehmen Emotionen, Stimmungen und sowohl eigene als auch fremde körperliche Befindlichkeiten stärker wahr als andere. Sie kommen zum Beispiel in einen Raum voller Menschen und spüren sofort, wie hier die Stimmung ist. Und damit meine ich nicht, dass sie erkennen, ob gute Laune herrscht oder nicht. Sie erspüren ziemlich genau, wo unterschwellig Konflikte brodeln, wo sich Menschen zueinander hingezogen fühlen, wer mit wem gut kann und wer nicht.

Welche Herausforderungen bringt das mit sich?

Weil sie Reize so intensiv wahrnehmen, müssen sie sich gut vor Überreizung schützen. Das kann schon dabei losgehen, dass für sie ein Tag im Großraumbüro oder das Hetzen von Meeting zu Meeting anstrengender ist als für andere. Deshalb wurden Hochsensible auch oft in die hysterische Ecke gestellt. „Sei doch nicht so sensibel“ oder „Jetzt stell dich nicht so an“ bekommen die Betroffenen oft zu hören. Dabei brauchen sie einfach nur zwischendrin mal ihre Ruhe und Auszeiten – zum Beispiel, indem sie mit Kopfhörern arbeiten oder alleine in einem Büro sitzen. Denn erhöhte Neurosensitivität bringt auch viele Vorteile mit sich – besonders für Unternehmen mit Hochsensiblen in Führungspositionen.

Welche Vorteile sind das?

Hochsensible sind High Performer. Sie nehmen mehr wahr als der Durchschnitt, was bedeutet, dass sie oft schneller und kreativer Lösungen für Probleme finden oder sehr vorausschauend denken. Wenn sie gelernt haben, mit ihrer erhöhten Neurosensitivität umzugehen, sind sie hervorragende Führungskräfte, die von ihren Teams wegen ihrer hohen emotionalen Kompetenz sehr geschätzt werden.

Was braucht ein Hochsensibler, um als Führungsperson erfolgreich zu sein?

Er muss vor allem seinen eigenen Wert erkennen. Denn in der Fremdbeurteilung ist er zwar eine hervorragende Führungskraft, aber er selbst empfindet sich nicht als solche. Er hat vielmehr oft den Eindruck, dass er nicht sein volles Potenzial entfalten kann und hat die Tendenz, sich unter Wert zu verkaufen. Und damit kommt man auf der Karriereleiter bekanntermaßen nicht sehr weit.

Wie finde ich heraus, ob ich dazugehöre?

Professor Michael Pluess von der Queen Mary University in London ist momentan einer der weltweit führenden Forscher auf dem Gebiet der Sensitivität. Er hat vor wenigen Tagen eine neue Internetseite zu dem Thema gelauncht, auf der auch mehrere entsprechende Tests zu finden sind: www.sensitivityresearch.com/de. Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie betroffen sind. Sie haben nur ihr Leben lang das Gefühl, dass sie anders sind als die anderen und sie wundern sich, dass allen anderen die für sie doch so offensichtlichen Dinge nicht auffallen. Hilfreich für mich fand ich auch das Buch „Neurosensitivität“ von Dr. Patrice Wyrsch. Denn was wir Hochsensiblen erkennen dürfen, ist, dass erhöhte Neurosensitivität keine Krankheit ist, sondern eine Superkraft.

VON HEIKE THISSEN